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Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese

Wer etwas auf sich hält in New Ross, County Wicklow, und es sich leisten kann, lässt seine Wäsche im Kloster waschen. Doch was sich dort hinter den glänzenden Fenstern und dicken Mauern ereignet, will in der Kleinstadt niemand so genau wissen. Denn es gibt Gerüchte.

Dass es moralisch fragwürdige Mädchen sind, die zur Buße Schmutzflecken aus den Laken waschen. Dass sie von früh bis spät arbeiten müssen und daran zugrunde gehen. Dass ihre neugeborenen Babys ins Ausland verkauft werden.

Der Kohlenhändler Bill Furlong hat kein Interesse an Klatsch und Tratsch. Es sind harte Zeiten in Irland 1985. Er hat Frau und fünf Töchter zu versorgen und die Nonnen zahlen pünktlich. Eines Morgens ist Billy zu früh dran mit seiner Auslieferung. Und macht im Kohlenschuppen des Klosters eine Entdeckung, die ihn zutiefst verstört.
Er muss eine Entscheidung treffen: als Familienvater, als Christ, als Mensch.

Mit wenigen Worten erschafft Claire Keegan, 1968 in Irland geboren, eine ganze Welt. Auf unnachahmliche Weise erzählt sie in ihrem neuen Roman von Komplizenschaft und Mitschuld, davon, wie Menschen das Grauen in ihrer Mitte ignorieren, um in ihrem Alltag fortfahren zu können und davon, dass es möglich ist, das Richtige zu tun.

Wie schon ihr Buch „Das dritte Licht“ ist auch dieses mit gerade einmal 100 Seiten ein Meisterwerk in wenigen Zeilen. Und erneut gelingt Claire Keegan ein kurzes und menschlich sehr berührendes Stück Literatur, in das sie die düstere Geschichte der irischen Magdalenenheime verwebt.

Unbedingt lesen!

Steidl-Verlag 2022 / € 18,00

Taschenbuchtipp: Rye Curtis – Cloris

Eine alte Dame, die einen Flugzeugabsturz überlebt, eine weinselige stets mit Merlot aus der Thermoskanne durchdrungene Rangerin und dazu eine übersichtliche Anzahl schwer durchschaubarer wichtiger Nebendarsteller*innen bevölkern den wunderbar schrägen Roman von Rye Curtis, dem die Hauptakteurin Cloris Waldrip den eingängigen Titel gibt.

Skurril, befremdlich, schwarzhumorig und stellenweise gruselig realistisch bewegt sich die Story um ein Überleben in der unbarmherzigen Wildnis der Bitterroot Mountains (Montana, USA) entlang menschlicher Abgründe und sonderbarer Gestalten.

Cloris überlebt den Absturz einer kleinen Propellermaschine und bleibt länger in den Wäldern, als es notwendig wäre. Warum sucht man die harte Einsamkeit, wenn man sich retten lassen könnte? Diese und andere existenzielle Fragen beantwortet das außergewöhnliche Romandebüt des amerikanischen Jungautoren Rye Curtis, von dem man unbedingt mehr lesen möchte. Hoffentlich ist sein nächstes Buch bereits in Arbeit – „Cloris“ jedenfalls ist ganz großes Kino!

Jetzt im Taschenbuch bei Kein & Aber / € 15,00

Delphine de Vigan – Die Kinder sind Könige

Es geht um eine Kindheit im Scheinwerferlicht:

Mélanie Diore war als junges Mädchen ein großer Fan von Formaten wie ‘Big Brother’. Sie hatte stets davon geträumt, gesehen und berühmt zu werden. Jahre später, als Mutter zweier Kinder, ist es ihr gelungen: Sie ist eine erfolgreiche Youtuberin mit Tausenden von Followern. Objekt ihrer Videos und Posts sind ihre Kinder Sam und Kim, die auf Schritt und Tritt gefilmt werden. Seit Kurzem kommt ihre kleine Tochter dem Filmen jedoch immer unwilliger nach. Mélanie tut das als eine Laune ab. Denn wie könnte man die unendliche Liebe, die ihnen aus dem Netz entgegenkommt, als Last empfinden? Kurz darauf verschwindet Kimmy nach einem Versteckspiel spurlos.

Die ermittelnde Polizeibeamtin Clara Roussel, deren Haltung zu den sozialen Netzwerken und deren Nutzern ambivalent ist, hat ein Problem: wie und wo soll sie nach der verschwundenen 6jährigen Kimmy suchen? Schnell begreift Clara, dass ihre üblichen Ermittlungsmethoden in der virtuellen Welt vollkommen nutzlos sind.

Man ist fasziniert und gleichzeitig abgeschreckt von diesem unerhört spannenden und vielschichtigen Roman, in dem sich die französische Autorin einem brisanten Thema widmet, das in Frankreich zu einer Diskussion führte über die Verfügbarkeit von Kindern und deren Ausbeutung im Netz durch die eignen Eltern.

Wo bleibt der Schutz des Kindes in einer Welt der hoch dotierten Werbeeinnahmen, wenn die Situation so katastrophal falsch eingeschätzt wird? Auch Mélanie ist in dem Glauben, sie handele im Sinne ihrer Kinder. Tatsächlich bestimmt die Gier nach Ruhm und Geld ihr Tun. Die Kinder sind keinesfalls Könige, sie sind die Opfer, die – auch das wird im Roman kurz behandelt – oft Jahre später ihre Eltern gerichtlich verklagen.

Ein so aktuell wie brisanter und dabei höchst lesbarer Einblick in die dunklen Kanäle der schönen neuen Medien-Welt.

Dumont-Verlag 2022 / € 23,00
Aus dem Französischen von Doris Heinemann

Milena Moser – Mehr als ein Leben

Aus wechselnden Perspektiven erzählt die Schweizer Autorin mögliche Lebensläufe eines Mädchens, eines Teenagers und einer erwachsenen Frau.

Helens Kindheit ist nicht unbeschwert. Die Mutter verarbeitet die Trennung von Helens Vater Luc vornehmlich mit Alkohol, während sich dieser eher seiner Fernseh-Karriere, seinem Beruf als Reporter und den häufig wechselnden Freundinnen widmet. So lernt Helen früher, als ihr lieb ist, wie man sich allein für den Kindergarten bereit macht und die Ausbrüche der Mutter vor den schaulustigen Nachbarinnen vertuscht. Glücklicherweise wohnt im ihrem Haus auch die Familie Esposito mit Sohn Frank, der Helens Hand hält und sein Lunchpaket mit ihr teilt. Als Luc eines Tages das Sorgerecht beansprucht, steht Helen vor einer grundlegenden Entscheidung.

In welchem Leben wird sich Helen einrichten?

Die unterschiedlichen Entwürfe, gekennzeichnet durch die verschiedenen Namen, die sie sich gibt, wechseln sich wie Perlen an der Erzählschnur dieses Romans ab.

Welchen Verlauf wird ihr Leben nehmen? Wird sie erfolgreich sein, verheiratet mit ihrer Sandkastenliebe, aber belastet mit einer Schuld, die das Familienglück trübt? Oder will sie nur weit weg, endlich unabhängig sein, sich ausprobieren und neu erfinden?

Mit verschiedenen Stilmitteln und Sichtachsen gelingt Milena Moser ein großartiges Spiel mit den Identitäten und den Schauplätzen Zürich und San Francisco.

Das ist ein Buch, in das man abends nach einem arbeitsreichen Tag mit Freude zurückkehrt und dessen Ende man sich auf jeden Fall für einen Sonntag aufsparen sollte.

So gehaltvoll und warmherzig dieser Roman ist, so bleibend ist auch der Eindruck, den er hinterlässt.

Kein & Aber-Verlag 2022 / € 27,00

Natalie Buchholz – Unser Glück

In München, einer Stadt mit schwindelerregend hohen Wohnungspreisen, erhält ein junges Paar mit kleinem Kind die einmalige Chance, eine wunderschöne, große Altbauwohnung zu mieten und kann sein Glück nicht fassen. Einziger und folgenschwerer Nachteil ist jedoch: die Wohnung muss geteilt werden, denn ein alleinstehender Herr bewohnt eines der vier Zimmer und muss den Neuankömmlingen nicht weichen. Dies regelt ein eigenwilliger aber rechtmäßiger Mietvertrag.

Es beginnt ein gewagtes Experiment, in das die Ehepartner Franziska und Coordt unterschiedlich motiviert und involviert einwilligen.

Ohne zu viel zu verraten: es wird eine seltsame WG auf Zeit, in der sich nicht alle gleichermaßen wohlfühlen, zumal der ältere Herr die Konditionen der höchst ungewöhnlichen Wohnsituation zu seinen Gunsten erweitert.

Gebannt folgt man dieser schicksalsschweren Ehe- und Familiengeschichte bis zur letzten Seite und schwankt zwischen Ungläubigkeit ob der skurrilen Story und der Furcht, „so etwas“ könne tatsächlich nicht nur im Reich der Phantasie geschehen.

Natalie Buchholz, 1977 geboren, lebt (und wohnt…) in München.

Penguin-Verlag 2022 / € 20,00

Alena Mornstajnová – Hana

Im Winter des Jahres 1954 verändert sich das Leben der 9jährigen Mira innerhalb weniger Tage grundlegend. Bislang war es eher beschaulich und normal, eingebettet zwischen Elternhaus, Schule und nachmittäglichem Spiel auf den Eisschollen im Fluss ihres Heimatstädtchens in Osttschechien.
Nun ergreift jedoch eine plötzliche Krankheit von der gesamten Familie Besitz, der lediglich Mira durch einen Zufall entkommt.

Sie zieht nach dem Tod von Eltern und Geschwistern zu der eigenbrötlerischen Tante Hana, der stets in schwarz gekleideten seltsamen Schwester ihrer Mutter Rosa.
Keine einfache Kindheit in den 50er, 60er Jahren in dem kleinen Ort Mecirici, zumal sie keine Ahnung hat, was es mit dem hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Wort „Jude“ auf sich hat, das man sie hören lässt.

Die tschechische Autorin Alena Mornstajnová, die heute selbst noch in dieser kleinen Stadt lebt, erzählt auf melancholische und mitfühlende Art eine Familiengeschichte über drei Generationen, die autobiografische und an tragischen Details reiche Züge trägt.

„Mit so feinem Strich haben Sie selten Freundschaften, Feindschaften, Intrigen, Familienfehden, unerfüllte Liebe und unerwartete Hilfe in einer kleinen Gemeinschaft unter den Schatten der Weltläufe beschrieben gelesen.“

So urteilt der Bonner Generalanzeiger über diesen bildreichen Roman.
Besser kann man die Atmosphäre dieses außergewöhnlichen Buches nicht beschreiben.

Unionsverlag 2022 / € 14,00 / Aus dem Tschechischen von Raija Hauck

Annika Büsing – Nordstadt

Ein großes, schmales Debüt mit Tiefgang:

Nene ist Anfang zwanzig, Bademeisterin und hat bereits einige Tiefschläge in ihrem Leben aushalten müssen. Ihre Überlebensstrategie: Bahnen ziehen, versuchen zu vergessen, pragmatisch sein. Dann lernt sie im Schwimmbad Boris kennen, der Puma-Augen hat und ihr nicht sofort an die Wäsche will.

Boris, der an Kinderlähmung erkrankt war, für den es keine Jobs gibt, nur Schimpfwörter oder Mitleid. Der Schmerzen hat und die Welt mit Verachtung behandelt. Ihr erstes Date wird prompt zum Debakel, aber Nene zeckt sich in Boris’ Herz, und er sich in ihres. Er kapituliert vor ihrer Direktheit und ihrem Lebenswillen, sie vor seinem Entschluss, sein Mädchen glücklich zu machen. Boris wird sie anlügen, er wird sie hängenlassen. Ihre Liebe ist wie jede Liebe: nicht perfekt. Aber sie berührt beide auf eine Weise, die sie vergessen oder nie gekannt haben.

Annika Büsing erzählt in ihrem Debüt eine herzzerreißende und gleichzeitig aufgeraute Liebesgeschichte. Oft krass direkt und lakonisch, manchmal humorvoll und auf eine verstörende Art unterhaltsam.

Seite für Seite gewinnt die Geschichte an Tiefe und am Ende muss auch die (mit-)abgetauchte Leserschaft erst einmal durchatmen. Das ist großes Kino.

Steidl-Verlag 2022 / € 20,00

Fatma Aydemir – Dschinns

Facettenreich, vielschichtig, fesselnd – all das ist der neue Roman von Fatma Aydemir, die Geschichte einer türkischen Einwandererfamilie zwischen alter und neuer Heimat, mit Verve und Spannung erzählt.

Mit dem plötzlichen Tod des Familienoberhauptes Hüseyin beginnt das Buch, ein höchst überraschender Einstieg. In der Türkei seinerzeit zur Arbeit für eine deutsche Fabrik angeworben hat er ein gleichermaßen entbehrungsreiches wie anstrengendes Leben in Deutschland gelebt, seine Familie umsorgt und so sparsam gewirtschaftet, dass er sich nun im Rentenalter eine Wohnung in Istanbul kaufen kann, um den Lebensabend dort – so seine Wunschvorstellung – mit Ehefrau und den erwachsenen Kindern erleben zu können. Dass er nun ausgerechnet dort bei den letzten Einrichtungsarbeiten stirbt, ist für seine Frau und Kinder unfassbar und sie alle kommen auf unterschiedlichen Wegen an dem ihnen noch unbekannten Ort zur Beerdigung des Vaters zusammen.

Die sehr unterschiedlichen Charaktere der Familie machen den unwiderstehlichen Reiz des Romans aus und jedem der Personen ist ein Kapitel gewidmet: dem Vater Hüseyin selbst, seinen Söhnen Hakan und Ümit und den Töchtern Sevda und Peri sowie abschließend seiner Frau Emine. Stück für Stück enthüllt sich der Leserschaft so eine Familie mit Untiefen und Brüchen. Die titelgebenden Flaschengeister können, einmal freigelassen, nur schwer wieder eingefangen werden.

Das Buch der Berliner Journalistin und Autorin Fatma Aydemir hat mich durch seine Vielschichtigkeit und die sprachliche Klarheit beeindruckt. „Dschinns“ wäre bereits jetzt mein erster Wunschtitel für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2022.

Hanser-Verlag 2022 / € 24,00

Maxim Leo – Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse

Im September 2019 bekommt Michael Hartung, der Besitzer einer Videothek in Berlin, Besuch von dem Journalisten Lanzmann. Der recherchiert über eine spektakuläre Massenflucht aus der DDR, bei der 127 Menschen in einem S-Bahnzug am Bahnhof Friedrichstraße in den Westen gelangten. Der Journalist hat Stasiakten entdeckt, aus denen hervorgeht, dass Hartung, der früher als Stellwerksmeister am Bahnhof Friedrichstraße gearbeitet hatte, die Flucht eingefädelt haben soll.

Dieser dementiert zunächst, ist aber nach Zahlung eines ordentlichen Honorars und ein paar Bieren bereit, die Geschichte zu bestätigen. Schließlich war er noch nie bedeutend, noch nie ein Held, und wenn es nun mal so in den Akten steht…

„Hartung hörte sich selbst beim Sprechen zu. Es war erstaunlich, wie logisch das alles klang (…) Nichts von allem, was er erzählte, war erfunden (…) die Lüge bestand nur darin, einen Zusammenhang zwischen diesen Ereignissen herzustellen.“

Nur wenig später reißen sich die Medien um ihn, Hartung wird vom Bundespräsidenten empfangen, seine Geschichte soll Vorlage für ein Buch und einen Kinofilm werden. Sein Leben fühlt sich plötzlich traumhaft und leicht an.

Doch dann trifft er Paula. Sie war als Kind in jenem S-Bahnzug, der in den Westen umgeleitet wurde. Die beiden verlieben sich – und Hartung spürt, dass er einen Ausweg aus dem Dickicht der Lügen finden muss. Obwohl es dafür eigentlich schon zu spät ist.

Einen herrlich kompromisslosen Unterhaltungsroman hat Bestsellerautor Maxim Leo hier geschrieben: leicht, lustig und (dennoch) lehrreich lotst er seine Leser:innen durch die Untiefen der ost-/westdeutschen Vergangenheit und lässt uns an den Irrungen und Wirrungen seines bierseligen und Luis-de-Funés-liebenden Anti-Helden teilhaben.

Mit seinem letzten autobiographischen Roman „Wo wir zuhause sind“ zeigte Maxim Leo seine ernste Seite. Hier macht er sich (und uns) einen Spaß – und das ebenso gekonnt wie kurzweilig.

Kiepenheuer & Witsch 2022 / € 22,00

Bettina Flitner – Meine Schwester

2017 hat sich die um wenige Jahre ältere Schwester der Fotografin und Filmemacherin Bettina Flitner selbst getötet. Sie beendete ihr Leben, das von Depression und Angststörung beherrscht wurde.

Die Traurigkeit über den Selbsttod ihrer Schwester schrieb sich die Autorin nun von der Seele, in dem sie sich an die gemeinsame Kindheit in den 60er und 70er Jahren, die Schulzeit und ein Jahr in New York erinnert, an die charismatischen Großeltern und die Quirligkeit einer großen Familie mit zahlreichen Cousins und Cousinen, an Wohnorte zwischen Celle, Köln und Hamburg.

Von der ersten Seite an ist dieses überaus gelungene Erinnerungsbuch – zugleich ein therapeutischer Befreiungsschlag aus der Trauer – auch von Humor und Witz geprägt, so dass die unbestreitbar bedrückenden Momente, die in Bettina Flitners Rückschau zugelassen werden, immer ein Gegengewicht erhalten.

Dieses intime Portrait einer Familie und ihrer Schicksalsschläge rührte mich, weil es privat, aber nie voyeuristisch ist. Das Titelcover zeigt die Autorin und ihre Schwester im Alter von Anfang 20 Jahren in einem gemeinsamen Spiegelbild. Es erforderte sicherlich Mut, uns Leserinnen und Leser in dieser Tiefe an ihrem Leben teilhaben zu lassen. Eine Bereicherung ist es in jedem Fall.

Kiepenheuer & Witsch 2022 / € 22,00